In einer zunehmend global vernetzten Arbeitswelt ist das 360-Grad-Feedback ein zentrales Tool zur Personalentwicklung. Es lebt davon, dass Kolleg:innen, Führungskräfte und möglicherweise auch Kund:innen eine Person aus verschiedenen Perspektiven bewerten. Was jedoch häufig unterschätzt wird: Wie stark kulturelle Unterschiede beeinflussen, wie Feedback gegeben, empfangen und interpretiert wird.
Kulturelle Filter: Wie Kultur die Wahrnehmung prägt
Jede Rückmeldung ist durch den kulturellen Filter der gebenden und empfangenden Person gefärbt. Der niederländische Kulturwissenschaftler Geert Hofstede prägte in seinen interkulturellen Studien die Begriffe individualistische und kollektivistische Kulturen, um grundlegende Unterschiede im Denken, Fühlen und Handeln von Menschen zu beschreiben. 1
In individualistischen Kulturen – wie den USA, Deutschland oder Australien – steht die persönliche Autonomie im Vordergrund. Feedback wird hier häufig als direkt, ehrlich und lösungsorientiert formuliert. Ziel ist es, individuelle Entwicklung zu fördern, Stärken hervorzuheben und Schwächen offen anzusprechen. Ein Beispiel: Ein Vorgesetzter in Deutschland könnte einem Mitarbeitenden direkt sagen: „Deine Präsentation war inhaltlich stark, aber die Struktur solltest du klarer aufbauen.“
In kollektivistischen Kulturen – wie Japan, China oder Indonesien – hat der Erhalt der Gruppenharmonie Vorrang vor individueller Profilierung. Kritik wird daher eher indirekt und „verpackt“ geäußert, um Gesichtsverlust zu vermeiden. Auch Lob fällt subtiler aus, weil übermäßige Individualbestätigung als unangemessen gelten kann. So könnte eine kritische Rückmeldung in Japan etwa lauten: „Es wäre vielleicht hilfreich, wenn wir gemeinsam überlegen, wie wir die Präsentationen noch ein wenig klarer gestalten könnten”.
Studien zeigen, dass der kulturelle Kontext sogar beeinflusst, welche Verhaltensweisen als positiv oder negativ bewertet werden. Was in der einen Kultur als proaktives Verhalten gilt, wird in einer anderen möglicherweise als unangemessen wahrgenommen. 1,2
Die Rolle von Subjektivität im 360-Grad-Feedback
Im 360-Grad-Feedback wird das Verhalten einer Person aus mehreren Blickwinkeln bewertet – und genau hier wird Subjektivität zum Thema. Kulturell geprägte Vorstellungen von „guter Führung“, „Teamfähigkeit“ oder „Durchsetzungsstärke“ variieren stark.
Ein Beispiel: In vielen westlichen Kulturen wird es positiv bewertet, wenn Führungskräfte klar Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. In vielen asiatischen Kulturen hingegen wird Konsensorientierung höher bewertet – eine zu dominante Führungskraft kann hier eher negativ auffallen.
Dadurch kann es in internationalen Teams passieren, dass das selbe Verhalten einer Person in einer Region sehr positiv, in einer anderen eher kritisch bewertet wird – obwohl das Verhalten identisch war.
Herausforderungen in internationalen Unternehmen
Für global tätige Unternehmen ergeben sich daraus handfeste Herausforderungen:
- Vergleichbarkeit leidet: Ein und dasselbe Feedbackinstrument führt je nach kulturellem Hintergrund zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
- Fehlinterpretationen drohen: Vorgesetzte oder HR-Abteilungen interpretieren Ergebnisse anders, wenn sie den kulturellen Kontext nicht berücksichtigen.
- Frustration bei Feedback-Empfänger:innen: Wenn das Feedback aus einer anderen Kultur als unangemessen oder beleidigend empfunden wird, sinkt die Akzeptanz – und damit der Lerneffekt.
Lösungsansätze: Subjektivität bewusst gestalten
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sollten Unternehmen folgende Strategien verfolgen:
1. Interkulturelle Trainings einführen
Sensibilisiere dein Team für Unterschiede in Kommunikationsstilen, Feedbacktraditionen und kultureller Wahrnehmung. Nur wer versteht, wie Feedback in anderen Kulturen funktioniert, kann es auch richtig einordnen.
2. Kulturell angepasste Fragebögen nutzen
Sprache und Inhalte des Feedback Assessments sollten gegebenenfalls an verschiedene Kulturen angepasst werden.
3. Feedback moderieren lassen
Gerade bei international zusammengesetzten Teams kann es sinnvoll sein, Feedbackprozesse von neutralen, kulturkompetenten Personen begleiten zu lassen – intern oder extern.
4. Transparenz schaffen
Erkläre im Vorfeld, wie das Feedbacksystem funktioniert, was bewertet wird – und wie unterschiedlich kulturelle Perspektiven sein können. Das erhöht das Verständnis und die Akzeptanz bei allen Beteiligten.
Fazit: Subjektivität nicht vermeiden – sondern gestalten
Subjektivität in Feedbackprozessen lässt sich nicht eliminieren – aber bewusst gestalten. Wer kulturelle Unterschiede anerkennt und in seinen 360-Grad-Prozess integriert, schafft Raum für echtes Wachstum, Fairness und Vertrauen in internationalen Teams.
Der Aufwand lohnt sich: Studien zeigen, dass kultursensible Feedbacksysteme nicht nur präziser sind, sondern auch zu höherer Mitarbeiterzufriedenheit und besseren Entwicklungsergebnissen führen. 3
Sources
- Hofstede, G. (2010). Cultures and Organizations: Software of the Mind. McGraw-Hill. https://doi.org/10.13140/2.1.3805.2805
- House, R. J., Hanges, P. J., Javidan, M., Dorfman, P. W., & Gupta, V. (Eds.). (2004). Culture, Leadership, and Organizations: The GLOBE Study of 62 Societies. Sage. https://doi.org/10.4135/9781452231129
- Scherm, E., & Sarges, W. (2019). 360°-Feedback: Grundlagen, Instrumente, Praxisbeispiele. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23523-6