1. Das Konstrukt Soziale Erwünschtheit
Soziale Erwünschtheit beschreibt die Neigung von Personen, in Befragungen oder Tests nicht ehrlich, sondern gesellschaftlich akzeptiert zu antworten – oft aus Angst vor negativen Konsequenzen oder Ablehnung. Dieser Effekt zeigt sich sowohl im Alltag, etwa bei Fragen zu Alkohol- oder Medienkonsum, als auch in wichtigen Entscheidungssituationen, wie der Personalauswahl. Besonders in solchen high-stakes-Kontexten können Antworten gezielt so gegeben werden, dass sie das Ergebnis im eigenen Sinne beeinflussen, um mögliche Nachteile zu vermeiden.
2. Formen sozialer Erwünschtheit
Soziale Erwünschtheit zeigt sich nicht nur in verschiedensten Situationen – wie Umfragen, Bewerbungsgesprächen oder im Alltag - sondern auch auf unterschiedliche Art und Weise. Hier ein kompakter Überblick über die häufigsten Verzerrungsformen:
Faking good vs. Faking bad
Faking good bedeutet, sich selbst bewusst positiver darzustellen, z.B. in Bewerbungssituationen. Faking bad beschreibt das absichtliche Herunterspielen positiver oder Übertreiben negativer Aspekte, z.B. das Vortäuschen von Überforderung, um in weniger belastende Arbeitsaufgaben eingeteilt zu werden.
Underreporting vs. Overreporting
Underreporting heißt, unerwünschte Verhaltensweisen zu verschweigen oder abzuschwächen (z.B. die tatsächliche Arbeitszeit einer Aufgabe zu verschweigen, um effizienter zu wirken). Overreporting beschreibt dagegen, gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen zu übertreiben oder zu erfinden (z.B. in einer Bewerbung von einem Praktikum als “Projektleitungserfahrung” zu sprechen, um kompetenter zu wirken).
Impression Management vs. Self Deception
Impression Mangement ist die bewusste Fremdtäuschung, bei der eine Person gezielt ein - meist zum Besseren - verändertes Bild von sich nach außen vermittelt (z.B. demonstrativ lange im Büro sitzen zu bleiben, um engagierter zu wirken, ohne wirklich zu arbeiten). Self Deception ist eine Form der Selbsttäuschung, bei der eine Person zwar ein falsches Bild von sich vermittelt, jedoch auch davon überzeugt ist, diesem tatsächlich zu entsprechen (z.B. das Einreden von fairer und offener Kommunikation, obwohl andere Mitarbeitende es als autoritär wahrnehmen)
3. Soziale Erwünschtheit und Assessments
Assessments sollen dabei unterstützen bestimmte Merkmale, Ausprägungen, Fähigkeiten oder Einstellungen in unterschiedlicher Spezifität, jedoch immer authentisch, zu erfassen. Die Ehrlichkeit und Authentizität von Antworten ist daher, um auf Grundlage von Assessment-Ergebnissen Entscheidungen treffen zu können, unerlässlich. Wenig überraschend ist es demnach, dass Befragte, die an sozialen und gesellschaftlichen Normen orientiert antworten, nicht nur offensichtlich ihre Testergebnisse verfälschen, wie beispielsweise Persönlichkeits- oder Fähigkeitsprofile, sondern auch, dass das je nach Einsatz des Assessments Probleme nach sich ziehen kann.
Verzerrung der Testergebnisse
Diese Verzerrung ist von hoher Relevanz für die Assessmenterstellung und -auswertung. Zeigt sich nämlich eine starke Tendenz zu sozial erwünschten Antworten, misst der Test nicht mehr das erwünschte Konstrukt selbst, sondern vielmehr wie stark sich der oder die Befragte an sozialen Normen orientiert.
Verminderte Vorhersagekraft
Durch die Erhebung falscher Informationen, wird die Vorhersagekraft des gemessenen Konstrukts eingeschränkt und man kann sich nicht mehr auf die zu erwartende Wirkung verlassen. So kann beispielsweise eine hohe Persönlichkeitsausprägung gemessen werden, die für eine gute Ausführung eines bestimmten Jobs essenziell ist. Ist das Antwortverhalten jedoch von sozialer Erwünschtheit geprägt und die Testperson ordnet sich selbst entsprechend höher oder niedriger ein, kann das Testergebnis nicht mehr korrekt die Fähigkeit zur Jobausübung vorhersagen.
Neben allgemeinen Verzerrungen, die sich nachteilig auf die Ergebnisinterpretation und -nutzung auswirken, gibt es Probleme, die besonders im Personalbereich relevant sind.
Verschiebung von Rangfolgen bei Testpersonen
Anhand erhobener Gesamt-oder Teil-Testwerte kann eine Rangfolge an z.B. potentiell geeigneten Bewerbende erstellt werden, wobei die am besten geeignete Testperson an erster Stelle steht. Lassen sich nun manche Interessenten in ihrem Antwortverhalten von sozialen Normen leiten (z.B. sich in bestimmten Fähigkeiten besser darzustellen, als es der Wahrheit entspricht), während andere wahrheitsgetreue Rückmeldungen geben, verschiebt sich die Rangfolge zwangsläufig, wodurch besser geeignete Bewerber:innen möglicherweise weiter hinunterrutschen und in Wahrheit weniger geeignete weiter hinauf.
Verlust von Vergleichbarkeit zwischen Personen/Testergebnissen
Nicht nur Rangfolgen, sondern auch direkte Vergleiche zwischen Testpersonen oder -ergebnissen eines Assessments können Aufschluss über die Eignung für eine bestimmte Stelle oder Position geben. Personen, die sozial konform antworten sorgen allerdings dafür, dass die Vergleichbarkeit von Ergebnissen eingeschränkt bzw. überhaupt nicht gewährt wird.
Falsche Personalentscheidungen und höhere Fluktuation
Die zuvor beschriebenen Abschnitte können das Fundament falscher Personalentscheidungen legen. Durch die Verfälschung von Testergebnissen, wie Persönlichkeits- oder Fähigkeitsmerkmale, kann die Vergleichbarkeit von Testergebnissen leiden oder es zu fälschlichen Verschiebungen in Rangfolgen kommen, während die Vorhersagekraft der Ergebnisse eingeschränkt wird. Bleibt dies unbemerkt, und es werden auf dieser Grundlage Personalentscheidungen getroffen ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Eignung der Personen eingeschränkt ist und trotz Assessment zeitnah ein Wechsel erfolgen wird.
4. Auswirkungen sozialer Erwünschtheit in Assessments vorbeugen
Zwar gibt es keine Universallösung, die die Effekte sozialer Erwünschtheit vollständig aufhebt, doch es gibt Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeit für ebendas zu reduzieren.
Aufklärung und Gewährleistung von Anonymität und Vertraulichkeit
Den Teilnehmenden gleich vor Beginn zu versichern, dass alle Antworten anonym und vertraulich behandelt werden, kann helfen mögliche sozial konforme Antwortmuster aus Sorge vor negativen Auswirkungen auf ihre Karriere oder Weiterentwicklung, zu mindern oder vorzubeugen.
Ehrliche Kommunikation und Transparenz
Ehrlichkeit und Authentizität im Hinblick auf den Zweck eines Assessments sind unerlässlich. So kann die Aufklärung darüber, dass die Teilnahme einzig den Entwicklungsprozess unterstützen soll und keine negativen Konsequenzen nach sich ziehen wird, die Testperson darin bestärken zu ihren eigenen Gunsten ehrlich zu antworten.
Anwendung von Verhaltens- statt Einstellungsfragen
Abstrakte Fragen zu Einstellungen, Verhalten und Meinungen neigen dazu, sozial erwünschte Antworten zu provozieren. Um authentischere und verlässlichere Informationen zu erhalten, empfiehlt es sich, solche Fragen durch Verhaltensfragen zu ersetzen. Diese beziehen sich gezielt auf konkrete Erfahrungen oder den Umgang mit bestimmten Situationen und reduzieren dadurch die Gefahr von sozial erwünschten Antworten. Anstelle einer allgemeinen Frage wie „Schätzen Sie sich als teamfähig ein?“ könnte beispielsweise gefragt werden: „Wie häufig bieten Sie Kolleg:innen aktiv ihre Unterstützung an, auch wenn es nicht ihre Aufgabe ist?”.
Anwendung von Validierungs- und Kontrollfragen
Um sicherzustellen, dass die Antworten authentisch sind, können Validierungsfragen eingebaut werden, die auf ähnliche Themen aus verschiedenen Perspektiven abzielen. So kann überprüft werden, ob es Widersprüche in den Antworten gibt, die auf eine Tendenz zur sozialen Erwünschtheit hinweisen. Ein Item könnte „Ich halte mich immer an Regeln.“ lauten und eine hierzu passende Validierungsfrage wäre “Gelegentlich muss man Regeln brechen, um effizient zu arbeiten.”
Kontrollfragen dagegen sind Items, die ehrlich beantwortet bei kaum jemandem vollständige Zustimmung erhalten dürften. So z.B. “Ich habe noch nie jemanden angelogen”. Volle Zustimmung kann hier ein Hinweis auf ein sozial konformes Antwortverhalten der Testperson sein.
Multiple Bewertungsquellen: 360-Grad-Feedback
Die Durchführung von 360-Grad-Feedback-Prozessen, bei denen nicht nur die Testperson, sondern auch Kollegen:innen und Vorgesetzte in die Beurteilung einbezogen werden, hilft, Verzerrungen durch soziale Erwünschtheit zu minimieren. Eine einzelne Person hat weniger Einfluss auf die Beurteilung, wenn sie durch eine Vielzahl von Perspektiven ergänzt wird.
Mehr dazu findest Du in der Artikel-Reihe: Subjectivity in 360 Assessments
Fazit
Soziale Erwünschtheit stellt eine der zentralen Herausforderungen in der Durchführung von Assessments dar. Verzerrungen durch sozial konforme Antworttendenzen können die Validität der Ergebnisse maßgeblich beeinträchtigen und zu Fehlinterpretationen oder sogar zu Fehlentscheidungen führen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sozial erwünschtes Antwortverhalten nicht zwangsläufig auf bewusste Täuschung oder die Absicht zu lügen zurückzuführen ist. Vielmehr handelt es sich häufig um unbewusste Anpassungsprozesse, in denen Befragte versuchen, den Erwartungen ihrer sozialen Umgebung gerecht zu werden. Umso wichtiger ist es, sich dieser Effekte bewusst zu sein und durch geeignete Maßnahmen – wie valide Frageformate oder Kontrollmechanismen – die Auswirkungen auf die Ergebnisqualität zu minimieren.